Inklusionsband „Rock am Ring“

Die Kraft der Musik

Rund 14 Millionen Deutsche spielen ein Musikinstrument oder singen in einem Chor. Und wissenschaftliche Studien belegen, dass sie intelligenter und sozialer sind als Menschen, die keine Musik machen. Wer regelmäßig musiziert, kann sich aber nicht nur besser in eine Gruppe integrieren, er stärkt auch sein Immunsystem und beugt Altersdemenz vor. Gute Laune macht Musik sowieso, das weiß jeder, der seinen Lieblingssong im Radio hört. Was aber passiert, wenn Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam in einer Band spielen? Dann komponieren sie eigene Stücke und rocken mit viel positiver Energie die Krefelder Bühnen, wie das Lebenshilfeprojekt „Rock am Ring“ seit vielen Jahren beweist. Die Pandemie hat es der Gruppe nicht immer leicht gemacht – und nun muss auch noch ein neuer Proberaum her. Initiator Gerd Rieger und Dirigentin Andrea Hülsmann wünschen sich jetzt ein kleines Weihnachtswunder.

Wie jeden Donnerstag beginnt die Bandprobe in der Oppumer Auferstehungskirche um 18 Uhr. Also eher so um Viertel nach sechs, denn alle sind ganz entspannt bei „Rock am Ring“, der Inklusionsband, die früher am Frankenring probte und so zu ihrem Namen kam. Schließlich müssen im Gemeindesaal erst Sitzgelegenheiten und Instrumente für 15 Mitglieder aufgebaut werden: Ein Schlagzeug, zwei Keyboards, acht Trommeln und zwei Gitarren sind heute im Einsatz. Dass ein paar der Musiker mit einer Behinderung zurechtkommen, ist ihnen oft nicht sofort anzusehen. Andreas ist beispielsweise fast blind, Anja vergisst sehr viel, und Anna und Philipp haben das Down-Syndrom. Doch bei diesem Projekt des Krefelder Vereins Lebenshilfe gehe es nicht um mögliche Schwächen einzelner Personen, sondern um Lebensfreude und das gemeinsame Überwinden von Grenzen, erklärt Musiktherapeut Gerd Rieger. „Mir war immer wichtig, dass wir behinderte Menschen nicht einfach vorführen. In dieser Band entwickeln wir miteinander Ideen und kitzeln aus jedem die individuellen Stärken heraus, um für die Musik unser Bestes zu geben.“

Initiator und Musiktherapeut Gerd Rieger ist selbst Vater zweier Kinder mit Trisomie 21

Die nach einem Zitat der Rheinischen Post „wohl außergewöhnlichste Band Krefelds“ gründete Rieger bereits im Jahr 2002, als der Begriff „Inklusion“ noch weniger verbreitet war als heutzutage. Auf der Webseite der Aktion Mensch findet sich eine einfache Definition: „Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazugehört.“ Doch Riegers Konzept, die Musik zur Inklusion zu nutzen, geht deutlich weiter zurück in die Vergangenheit. Als zwei seiner Kinder, Anna und Philipp, mit der Chromosomenanomalie Trisomie 21 auf die Welt kommen, beschließt der studierte Sozialpädagoge, nach Salzburg zu gehen, um nach 30 Jahren im Beruf noch ein Studium der Musiktherapie zu absolvieren. Er will die Lebensbedingungen von Menschen mit psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen verbessern, und Musik ist für ihn das geeignete Medium für „mehr Lebensqualität und Freude“. Bereits in früheren Jobs, beispielsweise bei einer Beratungsstelle für Spätaussiedler, setzte er Musik ein, um für Jugendliche aus Polen, Russland, Kasachstan und Deutschland ein soziales Miteinander zu schaffen. „Ich wollte, dass die Jugendlichen in Kontakt kommen, Deutsch lernen und über die Musik zusammenfinden“, sagt der Multiinstrumentalist. Dieses integrative Konzept funktioniere auch heute noch wunderbar, strahlt Rieger. „Menschen mit Behinderung drücken ihre Freude an Musik sehr spontan, viel direkter und klarer aus, als wir es oft tun, die wir Noten lesen können und uns der Sache oft eher wissenschaftlich nähern. So können wir alle voneinander lernen.“ Er selbst spielt gerne Saxofon, Akkordeon und Keyboard und  liebt den improvisierten Jazz.

Dirigentin Andrea Hülsmann demonstriert gut gelaunt den richtigen Einsatz des Schellenkranzes.

Bei Proben und Auftritten kann die Rockband „Rock am Ring“ auf ein ganzes Team von Unterstützern ohne Behinderung setzen. So kümmert sich Andrea Hülsmann, Erziehungspflegerin bei der Lebenshilfe und ebenfalls Musiktherapeutin, mit Herz, Hand und Fuß um den richtigen Einsatz der einzelnen Musiker. „Wer soll vorne stehen, wann ist das Glockenspiel dran, wo wird getanzt, wer muss gerade motiviert werden?“, erläutert sie ihre Hauptaufgabe. Sie leitet die Band seit über einem Jahrzehnt. Gerd Rieger sieht sich vor allem zuständig für Organisation, Kontaktpflege und Öffentlichkeitsarbeit, denn die Band sei sehr beliebt, auch wenn es wegen Corona gerade weniger Auftrittsmöglichkeiten gebe. Sein Sohn Andreas ist schon als Kind in die Band eingestiegen und spielt Keyboard und Bass, wenn er nicht gerade wieder an Ideen für neue Songs feilt. Dazu kommen Nico Hoersch am Schlagzeug und Gerd Höddinghaus an Gitarre und Bass.

Mittlerweile ist die Bandprobe in vollem Gange. Nach einem spontanen Geburtstagsständchen und der für Philipp wichtigen Klärung der Frage, ob Fotograf und Reporterin wirklich kein Paar sind, grooven sich alle zu „Andis Song“ ein. Es wird getrommelt und gerockt, was das Zeug hält – dazwischen hören wir leisere Passagen und gefühlvolle Soli mit Mundharmonika oder Melodica. Mittendrin gibt Andrea mit vollem Körpereinsatz deutliche Signale an die Bandmitglieder. Die Hütte brennt bereits – sind wir vielleicht doch bei einem Queen-Konzert gelandet? Schon geht es weiter mit dem „Urlaubssong“ – Rasseln und Steel Drum versetzen uns in die Karibik, während Anja beseelt ihre Hüften schwingt wie eine Hulatänzerin auf Hawaii. Um Tanzen geht es auch beim nächsten Stück: Anna kann sich zuerst nicht von ihren Mundharmonikas trennen und verstaut diese umständlich in den Hosentaschen, dann dehnt sie ausgiebig ihre Muskeln. Denn in dem Lied „Annas Tanz“ spielt sie eine Puppe, die wie eine Spieluhr aufgezogen wird und dann unzählige Runden dreht, während die Band ordentlich Gas gibt. Ganze Geschichten werden in den Songs von „Rock am Ring“ erzählt. Die Mitglieder schreiben alle ihrer Lieder selbst, und sie handeln immer von Themen, die sie persönlich bewegen, wie Liebe, Freundschaft oder auch Angst.

Das neueste Stück heißt folgerichtig „Corona ist ein Arschloch“. Es resultiert aus einem Videoprojekt mit Interviews, in denen die Bandmitglieder über ihren Alltag unter Pandemiebedingungen erzählen und verraten, was sie im Lockdown am meisten vermisst haben: Musik! Christa, Mike, Anja, Philipp, Andreas, Raimund und all die anderen langjährigen Musiker sind sich einig: „Die Rockband, die fehlt im Moment sehr vielen.“ Im Mai antwortete Krefelds Oberbürgermeister Frank Meyer sogar persönlich auf den Clip und versprach eine Nach-Corona-Party, berichtet Andrea Hülsmann stolz: „Wir zehren heute noch davon, dass der OB sich direkt an uns gerichtet hat. Der Bürgermeister! Und natürlich werden wir den Song bald aufnehmen, um ihn dann auf dieser Party performen zu können.“

Sie spielt eine Demoversion auf ihrem Handy ab. Der Sound ist eine Mischung aus Rap, Rock und 80er-Jahre-Pop, der aktuelle Text sollte vielen Menschen aus der Seele sprechen: „Corona ist ein Arschloch // Das ist uns allen klar // Ich will hier nur noch weg // Vielleicht zum Jupitar // Ich fühle mich wie eingesperrt // Und auch sehr allein // Party machen, feiern // Das darf leider nicht sein.“ Auch für den irgendwann kommenden Auftritt bei Frank Meyer hat sich die Band eine Geschichte ausgedacht: Das Coronavirus solle beim Refrain „Corona hau‘ ab“ von der Bühne gejagt werden, das Kostüm sei schon besorgt, schmunzelt Gerd Rieger. „Allerdings steht noch nicht fest, wer die Rolle übernimmt.“ Vielleicht Sohn Philipp, den fast alle als „Rampensau mit Herz“ beschreiben?

Die coronabedingten Auflagen für Musiker sind auch der Hauptgrund für den erneuten Umzug des Proberaums. Vom Frankenring ging es zunächst in die Musikschule der Stadt, denn Rieger ist überzeugt, dass aktive Musikarbeit und Inklusion schon vom Grundkonzept her in eine städtische Einrichtung gehören. Aber nach über zehn Jahren am Schönwasserpark sei in der Musikschule kein Platz mehr für so eine große Gruppe und die vielen Instrumente der Band gewesen, so Rieger. „Die Auferstehungskirche in Oppum hat uns dann im Herbst sehr herzlich empfangen“, freut sich der Musiktherapeut. „Wir nutzen einen Abstellraum für unsere Instrumente und können jede Woche wieder im Gemeindesaal proben. Doch auf Dauer brauchen wir eine bessere Akustik und auch deutlich mehr Platz.“ Gesucht wird jetzt ein großer Proberaum für kleines Geld – am liebsten in Krefeld. Vielleicht könne man sich ja einen Raum mit einer anderen Band teilen, wirft Andrea ein.

Und so ist der größte Weihnachtswunsch der zwei führenden Herzblutmusiker, im neuen Jahr wieder „vollständig und ohne Einschränkungen“ proben zu können. Damit es auch 2022 in der Alten Kirche, auf der Burg Linn, beim Folklorefest oder vielleicht im Zoo wieder heißen kann: „Hier kommt Ihr Publikumsliebling ,Rock am Ring‘!“. Denn nicht nur die Band weiß, frei nach Loriot, dass ein Leben ohne Musik zwar möglich, aber sinnlos ist.

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