Michael Krudewig

Seit 55 Jahren Weihnachtsmann: Zwischen Nächstenliebe und Schicksalsschlägen

Mit dem typischen Geräusch seit langem nicht geölter Scharniere öffnet sich die schwere hölzerne Tür des Knusperhauses im historischen Hülser Stadtkern. Bedächtig, wie man es von einem Weihnachtsmann erwartet, schiebt Michael Krudewig seinen Kopf durch den Spalt. Seine leuchtenden Augen blitzen über der auf der Nasenspitze sitzenden Lesebrille hervor und sein Mund formt sich, von einem dichten weißen Rauschebart umrahmt, zu einem Lächeln. „Hohoho“, würde man zur Begrüßung erwarten, aber es ist ein „Da seid ihr ja!“, das uns zum Empfang zuteil wird. Krudewigs Interpretation des Weihnachtsmanns könnte authentischer kaum sein, einzig dem dicken Bauch muss er nachhelfen, weil er vor und nach seinen drei Schlaganfällen Gewicht verlor. Hinter der nahezu perfekten Fassade der Freude spendenden Weihnachtsfigur steckt ein bewegtes Leben, das keine Höhen, aber auch keine Tiefen ausließ. Trotzdem glaubt Krudewig fest an die weihnachtlichen Werte und das Gute im Menschen. Seit 55 Jahren ist er nun für mindestens sechs bis acht Wochen im Jahr derjenige, der Gutes tut und Freude spendet – für Klein und Groß.

Von Anfang November bis Weihnachten, fünf Tage die Woche, acht bis zehn Stunden täglich: Seit 55 Jahren ist Michael Krudewig als Weihnachtsmann im Einsatz.

Krudewig verkörpert nicht nur den Weihnachtsmann, sondern auch den Nikolaus. Beide Figuren haben wenig miteinander zu tun, das ist ihm wichtig. Während der Weihnachtsmann „ein lustiger Geselle ist“, kommt der Nikolaus mit einer Moral. Er wertet, lobt und tadelt. „Früher war ich eigentlich immer der Nikolaus“, beginnt Krudewig zu erzählen, „aber seit den Neunzigern hat sich das Verhältnis genau ins Gegenteil verkehrt. Der Weihnachtsmann ist bei vielen Anlässen deutlich geeigneter, gerade bei Firmen- und Weihnachtsfeiern.“ Ob als Nikolaus oder Weihnachtsmann, es sind immer die strahlenden Kinderaugen, die er als größten Lohn seiner Arbeit betrachtet. Ungleich größer ist für ihn allerdings die Verantwortung als Repräsentant der bischöflichen Figur. „Wir leben in Zeiten, in denen Eltern gern die Erziehung ihrer Kinder outsourcen. Ich soll dann in einer Begegnung Kinder maßregeln und auf den rechten Weg bringen. Das lehne ich genauso ab wie die Bloßstellung. Ich würde niemals in großer Runde das Bettnässen eines Kindes ansprechen. Das macht man einfach nicht“, so Krudewig weiter. In 55 Jahren als Nikolaus und Weihnachtsmann hat er schon alles erlebt. Sterbende, bei denen der Anblick seiner Person den letzten Lebensfunken entfachte. Schwerstbehinderte Kinder, die in seiner Gegenwart ungeahnte Fähigkeiten zeigten. Von Anfang November bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag ist er unentwegt unterwegs; fünf Tage die Woche, oft für acht bis zehn Stunden am Tag. „Das ist auch gut so“, sagt er verschmitzt lächelnd über das Pensum, das selbst den echten Weihnachtsmann an die Grenze seiner Belastbarkeit bringen würde. „Das hält mich fit und aktiv.“

Mit seinem weißen Bart und den weißen Haaren sieht Krudewig wirklich aus wie der Weihnachtsmann. Nur beim dicken Bauch muss er nachhelfen.

Dass Krudewig heute ein selbstbestimmtes Leben führen und als Weihnachtsmann Menschen glücklich machen kann, ist keinesfalls selbstverständlich. 2010 erlitt er seinen ersten Schlaganfall, den er vergleichsweise glimpflich überstand und infolgedessen er sein Leben radikal veränderte. 2012 traf er dann die folgenschwere Entscheidung, eigenmächtig seine blutdrucksenkenden Medikamente abzusetzen. Zwei weitere Anfälle sind das Resultat, die ihn halbseitig gelähmt und unfähig zu sprechen zurücklassen. „Mir hat keiner gesagt, dass ich das nicht darf“, erklärt er gleichermaßen ehrlich wie infantil. „Von einem auf den anderen Tag war mein Leben wie ich es bis dahin kannte, vorbei.“ Nicht wissend, ob er jemals wieder auf die Beine kommen würde, übergibt er in jenen Tagen seine Ämter an einen Kollegen und verkauft alles, was ihn zum Weihnachtsmann oder Nikolaus macht. „Die Zeit danach war hart“, sagt er lakonisch. Kein Hadern mit dem Schicksal, kein Klagen über ein besonders schweres Los geht über seine Lippen. Obwohl er alles neu lernen muss – Laufen und Sprechen – ist er seinerzeit von dem Gedanken getragen, dass es etliche Menschen gibt, die noch schlimmer dran sind als er. In quälenden Monaten der Reha holt er sich alles zurück: Die Motorik und Stück für Stück auch die Sprache. Heute ahnt niemand mehr, was ihm einst geschehen ist, wenn er in seinem typischen rheinischen Singsang über das Leben philosophiert oder den Sack geschultert als Weihnachtsmann zu seinen Veranstaltungen aufbricht. „Hätte es diese Zäsur in meinem Leben nicht gegeben, würde ich bald schon das 60. Jubiläum feiern“, schmunzelt das wackere Stehaufmännchen.

An seinen ersten Auftritt als Nikolaus denkt Krudewig gern zurück. „Ich war quasi die Krankheitsvertretung“, sagt er schmunzelnd. „Im Dorf wussten alle, dass ich gut reden kann und auch sonst gern die Bühne suche, also hat man mich angesprochen.“ Nicht einmal volljährig, klebt er sich seinerzeit also den Bart an und tingelt flankiert von seiner Entourage durch Kinder- und Altenheime, wo er mit schleppendem Gang und extra tiefer Stimme Geschenke verteilt. Seinem „Stage-Gen“ verleiht er auch außerhalb der Weihnachtszeit immer wieder Ausdruck, formt daraus gar ein zweites berufliches Standbein. „Ich hatte für viele Jahre eine Event-Agentur, mit der ich rund um Feiern sogenannte Bunte Abende organisierte“, erinnert er sich, „das war eine wirklich schöne Zeit.“ Was für viele ein Fulltime-Job wäre, macht er nur nebenbei. Nach dem Gymnasium und der Bundeswehrzeit wird Krudewig zunächst Elektriker, schwingt sich dann zum Kaufmann auf und wird sogar Filialleiter, ehe er sich wieder komplett neu erfindet, beim Stadtanzeiger Anzeigen verkauft und in der Redaktion arbeitet. „Wenn man den Willen hat, sich zu verändern, und Menschen sehen, was man leistet, muss man nicht in den Bahnen stecken bleiben, die man anfangs gewählt hat“, sagt er mit einer Weisheit, die nur derjenige haben kann, der das Leben wirklich gelebt und alles probiert hat. Nicht alles sei ihm dabei gelungen, räumt er ein, aber es gehe eben darum, immer einmal mehr aufzustehen, als man hinfällt.

Das gleiche Prinzip gilt auch für sein Privatleben. Krudewig war viermal verheiratet. Er sei der „Herr der Ringe“, sagt er lachend und kokettiert anschließend mit der angeblichen Frustration über Gerhard Schröders fünfte Eheschließung. Geht er ins Detail, tritt schier Unglaubliches zutage. Mal ist es die Verletzung darüber, dass ihm ein katholischer Priester die Frau ausgespannt hat, mal sind Eifersucht, psychische Störungen oder Alkohol der Grund für Trennungen. Ein Wechselbad der Gefühle durchläuft er, wenn er über seine zwei Kinder und sieben Enkelkinder spricht. Unter die Freude darüber, wie wohlgeraten sie sind, mischt sich große Angst. „Mein Sohn liegt gerade wegen eines Aneurysmas im künstlichen Koma. Die Ärzte sagen, es bestehe keine akute Lebensgefahr mehr, aber ich mache mir trotzdem große Sorgen. Auch darüber, wie es ihm wohl gehen wird, wenn er wieder aufwacht“, sagt er mit gebrochener Stimme und tränenerfüllten Augen. Nur einen kurzen Moment lässt er diese Gefühle zu, dann richtet er sich und fährt fort: „Naja, das wird schon wieder. Da bin mir sicher.“ Es ist diese Zuversicht, die ihn trotz aller Niederschläge durchs Leben trägt und der feste Glaube daran, dass alles wieder gut werden wird. Zwar empfindet er sein Single-Leben heute nicht als Idealzustand, er komme aber gut zurecht. „Mal sehen, was da noch auf mich wartet, mein Leben ist ja noch lange nicht vorbei“, schmunzelt er und verweist auf das Alter seiner nächsten Verwandten, die alle die Hunderter-Marke kratzten. 30 Jahre wolle er mindestens noch. So viele wie möglich auch als Weihnachtsmann.

Dass Wandlungsfähigkeit und Flexibilität keine Frage des Alters sind, hat Krudewig vor allem letztes Jahr unter Beweis gestellt, als die Corona-Pandemie das gesellschaftliche Leben zum Erliegen brachte. „Die massiven Kontaktbeschränkungen haben meine normalen Auftritte unmöglich gemacht, also musste ich mir was einfallen lassen“, erzählt er achselzuckend. Ganz im Stile großer Streamer richtet er sich also einfach mal so ein Weihnachtsset ein, in dem er vor dem Bluescreen sitzend individualisierte Botschaften für die Kinder verfasst und zu professionellen Videos schneidet. „Das hat sogar Vorteile“, witzelt er, „virtuell kann ich die Kinder sogar zum Nordpol oder zu meinen Rentieren mitnehmen.“ Mit großer Leidenschaft und noch mehr Hartnäckigkeit fuchst er sich in die ihm zuvor völlig fremde Materie ein, entwickelt sogar die dazugehörige Website in Eigenregie. Eine bemerkenswerte Leistungen für einen Mann in den Siebzigern, der sich selbst keinesfalls als „digital native“ bezeichnen würde. Für einen Weihnachtsmann scheint nichts zu schwer. Wie jeder andere hat auch Krudewig Weihnachtswünsche: „Ich würde mir wünschen, dass die Spaltung der Gesellschaft endlich ein Ende hat. Ich kann es kaum ertragen, wie Menschen gerade bei der Impfdebatte miteinander umgehen. Mir macht auch dieses ganze Egomanentum schwer zu schaffen. Menschen werden nicht glücklicher, wenn sie sich nur noch um ihre Bedürfnisse kümmern, sondern ganz im Gegenteil. Das Glück liegt im Geben und das ist doch gerade in der Weihnachtszeit das über allem schwebende Thema.“ Trotz aller Rück- und Niederschläge glaubt Krudewig weiterhin an die Kraft des Guten und die Magie der Nächstenliebe. Jedes Jahr für mindestens sechs Wochen gibt er als Nikolaus oder als Weihnachtsmann diese Werte weiter. Würde er dem echten Weihnachtsmann begegnen, hätte er doch noch einen ganz persönlichen Wunsch: Dass sein Sohn unbeschadet aus dem Koma erwacht. „Wenn das passiert, wäre es für mich das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten.“ 

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