Rudi Bettinger

Der Chancenfinder

Um eine Chance zu ergreifen, braucht es Mut und Eigeninitiative. Sie aber überhaupt als solche zu erkennen, erfordert ein natürliches Talent, das nur wenige besitzen. Rudolf „Rudi“ Bettinger weiß heute, dass er mit beidem gesegnet wurde, denn sein Lebensweg ist eine Aneinanderreihung von erfolgreich ergriffenen Chancen. Als wir ihn kurz vor seinem 70. Geburtstag in seinem Bioladen „Natürlich Bettinger“ auf der Friedrich-Ebert-Straße besuchen, hat er sich ganz bewusst entschlossen, einmal über sich zu sprechen. Kennt fast jeder Krefelder das gutausgestattete Ladenlokal mit dem fast schon rustikalen, sehr persönlichen Café, kennen nur die wenigsten seine Geschichte. Der Duft von Rum, den sich Rudi mit lockiger Mähne, braungebrannt und breitgrinsend mit den Worten „das macht man ja auch nicht alle Tage“ aus der besten Flasche im Regal eingegossen hat, erfüllt süßlich den Raum, als er mit vor Aufregung geröteten Wangen seine große Chancenchronik vor uns aufschlägt.

Die Familie als Lehrmeister

Rudi kam 1951 als mittleres Geschwisterkind von insgesamt fünf Brüdern und Schwestern in Zöschlingsweiler im tiefsten Schwabenland zur Welt. Seine Eltern besaßen im kleinen Dorf das einzige Lädchen, in dem es nicht nur Lebensmittel, sondern auch Backwaren und die Möglichkeit zum Telefonieren gab. Das kleine namenlose Geschäft war der Dreh- und Angelpunkt der Gemeinde. Hier traf man sich zum Schwätzchen und hier konnte man auch nachts an die Tür klopfen, wenn Milch oder Kaffee für den nächsten Tag fehlten. Rudi war zwar der jüngste Bub der Familie, doch seine Eltern hatten schon ganz genaue Pläne für seinen Werdegang. Die Bettingers wollten den Laden durch ein Café ergänzen und so war es für sie ganz klar, dass Rudi mit 15 Jahren die Konditorlehre beginnen sollte. „Ich war traurig darüber, nicht selbst meinen Weg bestimmen zu dürfen, weil ich eigentlich doch viel lieber Automechaniker oder Schreiner werden wollte“, erinnert er sich. „Aber bei meinen Eltern ausziehen zu können, war toll.“ Mit seinen Siebensachen brach er ins für ihn meilenweit entfernte Heidenheim auf.

Liebe als Freiheit

Nicht mal 30 Kilometer von seinem Elternhaus entfernt, schnupperte der junge Mann zum ersten Mal an der Freiheit. Lernte er in einem Familienbetrieb und wohnte bei seinem Lehrherrn im Haus, genoss er es, sich ohne die elterliche Zustimmung mit Freunden in Kneipen zu treffen oder nach der Arbeit einfach das zu tun, worauf er Lust hatte. Noch heute glänzen seine Augen, wenn er von den ersten Jahren seiner Jugend berichtet. Mit Abschluss seiner Ausbildung gab Rudi diese Freiheit aber wieder auf, denn von Elternhand vorbestimmt, nahm er schließlich die Stelle als Konditor im elterlichen Café an.  Schnell hatte ihn das Dorfleben wieder. „Es gibt Momente, die ich auch heute nie vergessen werde“, schildert er, während seine Hände zum Rumglas greifen und er einen bedächtigen Schluck nimmt. „1974 zum Beispiel, als Fußball-Weltmeisterschaft war.“ Rudis Eltern waren stolze Besitzer des damals einzigen Farbfernsehers im Dorf und alle versammelten sich zum gemeinsamen Public Viewing vor dem kleinen Bildschirm im Café. Als Deutschland den Titel holte, explodierte die Stimmung und das gesamte Dorf fiel sich zwischen Stühlen und Tischen in die Arme. „Ich krieg heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke“, sagt Rudi und sein bayrischer Akzent wird angeregt durch die Erinnerung gleich noch ein bisschen stärker.  Aber schon zu dieser Zeit entwickelte sich bei Rudi auch ein anderes Gefühl. Zunehmend fühlte er sich in dem Leben, das seine Eltern für ihn festgelegt hatten, gefangen und so war es Schicksal und Glück gleichermaßen, als er Karneval zum ersten Mal mit Ingrid tanzte. „Sie begrüßte mich mit ‚Guten Tag‘ und ich dachte ‚Was ist das denn für eine?′“, grinst der noch 69-Jährige fast spitzbübisch – es fällt nicht schwer, sich seine jugendliche Attraktivität vorzustellen. „Bei uns sagt man ‚Servus‘ oder ‚Griaßdi‘. Aber die Sprachbarriere hielt uns nicht ab – wir verliebten uns Hals über Kopf.“ Und ebenso Hals über Kopf beschloss Rudi gemeinsam mit seiner Ingrid, die ursprünglich aus Essen kam, im schicken Opel durchzubrennen und die elterliche Zwangsjacke abzuwerfen. 

Das Café als Schritt in die Selbstständigkeit

Es war einige Jahre später, als Rudi, schon mit eigenen Kindern im Gepäck, einen Bauernhof mietete. Inzwischen Konditormeister, machte ein Stehcafé in Lauingen der Donau auf. Während das Ehepaar beschloss, die Kinder auf die Waldorfschule in Heidenheim zu schicken, begann Rudi, sich immer mehr mit gesünderem und nachhaltigerem Backen zu beschäftigen. „Ich hatte in meiner Meisterlehre schon Gebäck mit Vollkornmehl ausprobiert, aber durch meine Kinder wollte ich noch gesünder leben und auch noch mehr Gesundes anbieten“, erinnert er sich, während er die große Backstube im heutigen Bettinger-Bioladen betritt. Er lässt seine Finger über alte, von ihm mit roter und weißer Farbe aufgepeppte Backautomaten streichen, ein leichter Mehlstaub bedeckt die Regale, während er weitererzählt: „Ich nahm schlussendlich als erster Bäcker in der Region Vollkornbrote in mein Angebot auf.“ Und das ziemlich erfolgreich: Neben dem eigenen Café belieferte er auch Händler in den Nachbargemeinden. Stand er schon nachts um drei in der Backstube, um die Bestellungen abzuarbeiten, versuchte er die Fahrzeiten mit dem Zur-Schule-Bringen seiner Sprösslinge zu kombinieren. Hatte er diese und auch die Bestellungen in Heidenheim abgegeben, gönnte er sich ein kurzes Schläfchen im Auto, um die Kinder anschließend wieder mit dem Auto nach Hause zu nehmen. „Das war ein Lebensstil, der mir viel Kraft abverlangte“, schildert er. „Irgendwann war klar, dass wir das als Familie nicht mehr schaffen können.“ Eine Veränderung musste her. 

Krefeld als Strukturgeber

Es war reiner Zufall, dass die Hebamme der Familie, wie Rudis Frau aus Essen, irgendwann mit einer verrückten Idee um die Ecke kam: Sie schlug vor, Rudi solle doch nach Krefeld ziehen. Hier sei nämlich ein schickes Ladenlokal mit Wohnung oben drüber zu vermieten. Außerdem sei die Waldorfschule unkompliziert zu Fuß erreichbar. Von Krefeld hatte der Urschwabe natürlich noch nie etwas gehört und so düste er an Allerheiligen, einem seiner wenigen freien Tage im Jahr, 550 Kilometer über die Autobahn, um sich den möglichen Wohnort am Niederrhein anzuschauen. Schon damals fuhr Rudi am liebsten Volkswagen mit großer Ladefläche und auch den wenigen freien Tagen im Jahr ist er bis heute treu geblieben. „Ich weiß auch nicht mehr warum, aber wir sagten zu“, erinnert er sich und die feinen Fältchen um seine freundlichen Augen bewegen sich. Im März 1992 übernahm er ein schon bestehendes Geschäft auf der Uerdinger Straße 332 und gründete „Natürlich Bettinger“. Die ersten Jahre fühlte sich Rudi mit seinem bayrischen Akzent, seiner lauten, unbekümmerten Art und seiner charmanten Kommunikationsfähigkeit wie ein Außerirdischer unter den etwas spröden Niederrheinern. Dennoch sammelte der Bioladen fleißig Stammkunden. Nach und nach holte der Schwabe sein Backequipment in die Seidenstadt und begann, Vollkornbrot in Krefeld beliebt zu machen. Seine Kunden waren begeistert und die besonderen Fähigkeiten des Bäckers sprachen sich rum. 


Veränderungen als Wegweiser

„Meine Lebenssituation veränderte sich erneut“, erklärt Rudi. „Das ist für mich sehr natürlich, denn mit jedem Wandel des Umfelds verändert man sich auch selbst ein bisschen.“ Und so zog Rudi irgendwann in ein neues Gebäude an der Kaiserstraße, um die Backstube durch ein Café-Angebot noch weiter auszubauen. Aber auch da war er noch nicht am Ziel angelangt: Durch Zufall stieß er einige Jahre später auf den leerstehenden Bockumer Bürgerkrug an der Friedrich-Ebert-Straße. Das Eckhaus mit den großen Fenstern, die damals allerdings noch in Kneipenatmosphäre verdunkelt waren, sprach ihn direkt an. „Ich fand heraus, wem es gehörte und entschied mich, es zu sanieren“, sagt Rudi. „Ja und so ist das entstanden, was ihr heute hier seht.“ Und was doch eigentlich gar nicht so weit von dem weg ist, was sich Rudis Eltern für den jungen Mann überlegt hatten. 

Als Rudi seine Geschichte beendet, ist das Rumglas schon lange leer und die Röte im Gesicht einer wohligen Zufriedenheit gewichen. Nicht etwa in Zöschlingsweiler, sondern in Krefeld, ist „Natürlich Bettinger“ heute seit 30 Jahren zu Hause. Rudi verkauft Bio-Lebensmittel, nachhaltige Kosmetik und allerhand Produkte für den täglichen Bedarf. Jeden Morgen steht er aber auch in der hauseigenen Backstube, mahlt Mehl und backt leckeres Vollkornbrot und andere Backwaren. Mit einem Café im Innen- und Außenbereich sorgt er für den „Klön-Charakter“, den er schon bei seinen Eltern so sehr zu schätzen wusste. Da Rudi im selben Haus lebt, hat er auch das Hintertürgeschäft adaptiert. Die Gegend rund um Bettingers Laden ist wie ein eigenes kleines, eingeschworenes Dörfchen, und es ist keine Seltenheit, dass ein Nachbar auch noch nach den Öffnungszeiten an die Tür klopft, wenn Milch oder Kaffee für das Frühstück am nächsten Morgen fehlen. Wenn Rudi Ende Juli seinen 70. Geburtstag feiert, dann schaut er auf so viele Chancen zurück, die ihn im Leben immer ein Schritt weiter und manchmal sogar an einen völlig anderen Ort gebracht haben. Am Ende haben die Füße des braungebrannten Mannes mit den grauen, wilden Locken und dem breiten Grinsen in eine Welt getragen, die irgendwie schon immer für ihn vorgesehen war. 

Natürlich Bettinger
Friedrich-Ebert-Straße 240
47800 Krefeld
Öffnungszeiten Bioladen: Montag bis Freitag von 7 bis 19.30 Uhr und Samstag von 7 bis 15 Uhr.

Café: Montag bis Samstag von 9 bis 18 Uhr und Sonntag von 13 bis 17 Uhr
Tischreservierung unter Telefon 596 991
www.natuerlich-bettinger.de 

Artikel teilen: