Weltenwanderer Angelo Buccini

Vom Porsche zu Hartz 4 in sieben Minuten

Das Loft thront über der Sozialbauwohnung. Der Porsche übertönt die scheppernde Fahrradklingel. Die großen Fenster verdrängen mit Tageslichtdurchflutung die Erinnerung an die kalt-flackernden Deckenstrahler. Der Bänker lebt über dem Hartz-4-Empfänger. Chancen treffen auf Abgründe.

Meistens braucht es eine ganze Stadt, um unsere Gesellschaftsstruktur in ihrer Vielfalt abzubilden und um den Kontrast zwischen Arm und Reich erlebbar zu machen. In Krefeld aber ist dafür nur die ausführliche Betrachtung eines einzigen Hauses notwendig – oder sogar nur einer einzigen Person: Angelo Buccini. Angelo ist Bewohner einer der wenigen Luxus-Loftwohnungen im Krefelder Mississippidampfer. Gleichzeitig säubert er als Reinigungskraft jeden einzelnen Winkel in Krefelds größtem Hochhaus. Genießt der 44-Jährige privat aus der 21. Etage den großartigen Ausblick ins Krefelder Umland, fährt er tagsüber für seinen Job von Etage zu Etage tiefer ins Krefelder Milieu.

Angelo Buccini ist Reinigungskraft in Krefeld höchstem Hochhaus – und bewohnt daher eine Loftwohnung in den oberen Etagen, die sonst den besser gestellten Mietern vorbehalten bleibt.

Ein Leben der Diversität. Ein Mensch als Bindeglied zwischen den Gesellschaftsschichten, die in unserer Vorstellung so weit auseinanderliegen, aber hier im Hochhaus am Bleichpfad Tür an Tür auf engstem Raum aufeinandertreffen. Einen Tag lang hat uns Angelo in seine Welt mitgenommen.

In großen Zeichen zeigt das Handy 05.30 Uhr, als der Wecker klingelt und Angelos Kopf in Richtung Zimmerdecke schießt. Es sieht fast so aus, als würde der 44-Jährige in den Wolken schweben, so nah wirkt der Himmel vor der breiten Fensterfront. Angelo genießt seine erste Zigarette auf dem Balkon. Hier auf der 21. Etage trennen ihn nur noch zwei Stockwerke vom Zenit des Hochhauses. Während der Rauch seine Lungen durchströmt, lässt er den Blick über die Lichter der Stadt schweifen. Den Kaffee in der Hand – er trinkt ihn mit Milchpulver und ziemlich viel Süßstoff – kann er von hier aus an klaren Tagen bis nach Duisburg blicken. Die Industrieschornsteine blitzen dabei in der aufgehenden Sonne wie Sterne aus einem fremden Universum.

Nur rund eine halbe Stunde später hat sich das Bild verändert. Mit schwarz-gelber Weste und einem Putzwagen, der wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint, steht Angelo 21 Stockwerke tiefer im Eingangsbereich des Mississippidampfers. Etliche Briefkästen, ordentlich beschriftet und in die Wand eingelassen, nehmen den Betrachter mit auf eine Weltreise, so international sind die Namen auf den Schildern. Angelo aber scheint diese gar nicht zu beachten – die Uhr zeigt Punkt sieben, als er den Staubsauger startet, um die großen Fußmatten geräuschvoll abzusaugen. „Ich habe hier vor vier Jahren angefangen und bin zur selben Zeit eingezogen“, erzählt der gebürtige Kölner in einer kurzen Pause. „Die meisten Leute wissen nicht, dass ich auch hier wohne. Das ist auch gut so, man muss sich ja schon ein bisschen schützen.“

Angelo ist der einzige Gebäudereiniger im Hochhaus und hat seine Arbeit fest im Griff. Seine Routinen sind dabei immer gleich: Fängt er im Eingangsbereich mit der Reinigung an, zeigt ihm sein selbstgeschriebener und gut strukturierter Putzplan anschließend, welche Flure heute auf der Liste stehen. Sechs bis neun Etagen schafft der fleißige Mann täglich. Dabei hat jede Etage rund 130 Quadratmeter Flurfläche. Gerade auf den tieferen Eben verlieren sich die Gänge außerdem in undurchsichtigen Nebenstrukturen. „Da schaffe ich schon so meine 1.000 Quadratmeter am Tag“, sagt er und grinst. „Bist du am Ende des Tages fertig, kannst du eigentlich wieder von vorn anfangen.“

Um kurz vor acht hält Angelo plötzlich inne und blickt auf die Uhr. Seine volltätowierten Arme werden sichtbar. „Es ist noch nicht lange her, dass ich jeden Morgen einen alten Mann mit Ghettofaust begrüßte“, erzählt er. „Das jetzt gerade wäre seine Zeit.“ Der 96-Jährige war ein Urgestein des Hauses. Viele Jahre lebte er hinter der bunt verputzten Fassade und kleidete sich jeden Tag aufs Neue so, als würde er zur Arbeit gehen. In feinem Zwirn und mit selbstbewusstem Schritt glitt er über die Flure aus der achten Etage, in den Aufzug und vor die Türen des Hochhauses, um von der Tagespflege abgeholt zu werden. „Irgendwann bezahlten seine Angehörigen die Miete nicht mehr und er musste uns verlassen“, beschreibt Angelo. „Man gewöhnt sich schnell aneinander, deswegen tut es irgendwie weh.“

Angelo ist inzwischen im zweiten Flur angekommen. Der 44-Jährige arbeitet gewissenhaft, jede Ecke wird sorgfältig gewischt und kontrolliert. Er sammelt eine braune Bananenschale ein, die nachlässig von einem Bewohner in die Ecke geschmissen wurde. Eine Etage höher und rund eineinhalb Stunden später sackt er zwei Paar braune Lederschuhe ein, die ein anderer Bewohner vor seiner Tür abgestellt hat. „Die werden jetzt zwei Wochen bei mir aufbewahrt und wenn sich keiner meldet, kommen sie in die Mülltonne“, erklärt er. „Hier im Haus muss es strenge Regeln geben, sonst macht jeder, was er will. Das ist wie in einer Stadt, da braucht es auch einen Bürgermeister.“ Angelo lacht, während er seine Worte formuliert. Trotz seiner besonderen beruflichen Position ist er einer von hier, identifiziert sich mit den Bewohnern der unteren Stockwerke.

Auf Etage 13 ist Zeit für eine Frühstückpause. „Komm` mit, ich stell` dir jemanden vor“, sagt er und zieht eine schwere Tür auf, die auf einen Außenflur führt, auf der zwei weitere Haustüren den Weg in weitere Wohnungen öffnen. Angelo drückt hektisch auf eine Klingel und schlägt mit der Hand auf eine Tür. „Dieter* mach` auf, ich brau- che ́nen Kaffee“, ruft er gutgelaunt und wendet sich um. „Dieter kann weder lesen noch schreiben, hat das aber vor mir nie zugegeben. Trotzdem schau ich hier immer wieder vorbei und guck`, ob ich ihm mit seiner Post helfen kann. Dafür sacke ich ́nen Kaffee und ́ne Zigarette ein.“ Ein hagerer Mann, schätzungsweise um die 60, mit grauem Unterhemd und Jogginghose öffnet die Türe. Mit seinen Fingern rollt er eine Zigarette, sagen tut er nichts. Angelo begrüßt ihn herzlich, drückt sich über schwere Teppiche, die seit Jahrzehnten den Zigarettenrauch aufgenommen haben, vorbei ins Wohnzimmer. Poster von vollbusigen, nackten Frauen hängen neben schiefen Regalen an den Wänden, merkwürdige Geräusche schallen aus dem Fernseher. Rund zehn Minuten hält sich Angelo hier auf, bekommt von Dieter* eine Tasse Kaffee. „Weißt du, die Menschen, die hier leben, sind genauso wie wir“, sagt er energisch während er seinen Wagen aus dem Aufzug ins nächste Geschoss schiebt. „Es sind gute Menschen. Begegnest du ihnen herzlich, bekommst du auch eine unheimliche Herzlichkeit zurück.“

Während Angelo seine Arbeit fortsetzt, vermischen sich helle Schreie mit dem fast meditativen Geräusch des Wischers. „Das ist nur Keffi*“, sagt er mit beruhigender Stimme. „Eigentlich trinkt er den ganzen Tag auf der Platte, aber wenn er dann doch mal nach Hause kommt, streitet er sich immer mit seiner Frau. Aber er ist echt nett.“ Ein paar Wohnungen neben Keffi* schlägt die Tür auf. Erst wird ein Tischbein sichtbar, diesem folgt eine zäh wirkende alte Frau. „Hey Gisela*“ grüßt Angelo freundlich und dreht sich erklärend um: „Heute ist Mittwoch, da kommt bei uns immer der Sperrmüll. Jede Woche tauscht Gisela* ihre Möbel gegen ein paar, die an der Straße stehen.“ Angelo kennt seine Pappenheimer. Und er mag sie.

Rund eine Stunde später steckt der „Putzboy“, wie sich Angelo liebevoll selbst nennt, den Wischer in den Eimer und schiebt sein Wägelchen erneut in den Aufzug. Jetzt noch eben die Tücher und Lappen in die Waschmaschine packen und dann kann der Feierabend beginnen.

Von der Tiefgarage, in der ein Parkplatz für den Gebäudereiniger reserviert ist, bis zu Angelos Wohnungstür braucht es im Schnitt sieben Minuten, erklärt er und ergänzt zwinkernd: „Auf jeden Fall dann, wenn nicht auf jedem Stockwerk einer zusteigt.“ Vom Hauswirtschaftsraum aus braucht er nicht ganz so lange. „Du musst trotzdem immer genau überlegen, wie lang der Weg ist, der vor die liegt“, erklärt er. Vor vier Jahren, als er neu in das Haus gezogen war, kam er zu Terminen außerhalb des Hochhauses chronisch zu spät. Zu gering hatte er den Abstand zwischen der 21. Etage und dem, was im Erdgeschoss liegt, eingeschätzt, zu wenige Eventualitäten hatte er eingeplant. „Bevor ich von irgendwo nach Hause fahre, gehe ich auch immer nochmal auf Toilette“, führt er aus und lacht erneut. „Du weißt gar nicht, wie lang sieben Minuten sein können, wenn du mal dringend musst.“

Sieben Minuten. Hier im Hochhaus scheint es eine magische Zahl zu sein. Denn es sind sieben Minuten, die Angelo braucht, um zwischen den Welten zu wandern. Wie ein magisches Portal, das in einer Fantasiewelt von Trollen oder Zauberern beschützt würde, wirkt die Aufzugstür, wenn Angelo seine Finger auf den Knopf legt, um sein Gefährt für die Weltenwanderung zu rufen. Drücken die anderen Portalbesucher immer wieder auf den gleichen Knopf, weiß Angelo mutig und offenherzig alle Schalter zu bedienen und scheut nie davor zurück, ein neues Abenteuer zu erleben. Stoppt der Aufzug nach der Arbeit auf Etage 21, sind es vormittags die niedrigeren Ziffern, die Angelo genauso braucht, um sich zu Hause zu fühlen.

Mit der Aufzugstür scheint sich nach der Arbeit auch der Eingang zu einer neueren, anderen Welt zu öffnen. Motivtapeten zeigen bunte Blumenfelder, eine große Pflanze spendet Gemütlichkeit im Mehrfamilienhausflur und liebevoll ist die Etagenzahl durch einen Rahmen eingefasst worden. „Das haben meine Nachbarn alles selbst gemacht“, sagt Angelo fast stolz. Als der 44-Jährige den Schlüssel in seine Wohnungstür schiebt, sind die Bilder aus den unteren Etagen fast vergessen, lediglich die schwarz-gelbe Weste, die er noch immer trägt, erinnert an sein Parallelleben.

Angelo wohnt in einer Maisonettewohnung. Alle Wohnungen in der 21. Etage, so erzählt er, seien doppelgeschossig. „Ich nenne das hier auch die Künstleretage“, schildert er weiter. „Es leben nur Kreative hier.“ Wie auf den unteren Stockwerken weiß Angelo zu jeder Wohnungstür eine Geschichte zu erzählen. Sein Nachbar, ein Pensionär und ehemals hohes Tier eines großen Unternehmens in Krefeld, habe alle seine Wände in Anthrazit gestrichen. Ein Architektenehepaar nutzte lange Zeit eine der vorderen Wohnungen noch zusätzlich als Atelier. Und seine direkte Nachbarin, unheimlich nett, kommt manchmal vorbei und fragt ihn nach einem seiner selbstgemischten Remixe, wenn sie gleichzeitig vorsichtig bittet, ob er die Musik ein bisschen leiser drehen könnte. In Angelos Stimme ist kein Unterton zu hören, wenn er über die 21. Etage spricht. Das hohe Tier könnte auch Dieter* heißen und auf Etage 13 wohnen. Das Architektenehepaar interessiert sich wie Gisela* für Interior und Raumgestaltung. Und auch seine Nachbarin, die unheimlich Nette, mag es mal laut und mal leise, wie Keffi* von der Platte.

Gerade noch war Angelo wie Dieter*, Gisela* und Keffi*. Jetzt zieht er seine Weste aus, hängt sie ins im 70er-Jahre-Stil geflieste Badezimmer – und ist doch nicht ganz so wie seine direkten Nachbarn. Während diese sich beim Einzug entschieden haben, das Angebot des Vermieters anzunehmen und ihre Wohnungen renovieren zu lassen, hat sich Angelo bewusst für die charmanten, unsanierten Räumlichkeiten ausgesprochen. „Mir gefällt das besser als neumodische, kalte Fliesen“, beschreibt er. „Außerdem bleibt die Miete so für mich bezahlbar.“ Angelo bekommt keine Vergünstigungen bei der Anmietung seiner zweistöckigen Wohnung, das ist ihm wichtig, denn sollte es einmal mit der Gebäudereinigung nicht mehr klappen, möchte er sein Zuhause behalten können. Dadurch ist der Standard in seiner Wohnung etwas niedriger als zum Beispiel beim Bänker, der im obersten Geschoss, der 23. Etage, lebt und einen Porsche in der Tiefgarage stehen hat.

Dafür hat Angelo liebevolle Details in seiner Wohnung installiert. Im Gäste-WC zwitschern Vögel aus einem versteckten Lautsprecher, unter der Treppe sind sorgfältig alte Schallplatten sortiert und wer die dunkle Holztreppe in die Wohnetage nimmt, gelangt ins Herzstück seines Heims. Angelo liebt die Kontraste: Der Aufmerksame entdeckt immer wieder christliche Symbole, gleichzeitig zieren provokante Erotikfotos den Fenstersims und Bücher mit Aufschriften wie „Aktfotografie“ sind in den Regalen sorgsam aufeinandergestapelt. Die Fotografie ist die Leidenschaft des 44-Jährigen. „Ich mache hier hobbymäßig Fotoshootings und habe mir dafür ein kleines Studio eingerichtet“, sagt er und zeigt auf Leinwände, die gerollt an der Decke hängen. „Wenn ich sage ,Ich fotografiere im Hochhaus‘ schrecken die Kunden erstmal immer ein bisschen zurück, auf der anderen Seite hilft ein Besuch hier aber auch, Vorurteile abzubauen.“

Vorurteile. Ein Thema, das Angelo sehr beschäftigt. Fast zehn Mal hatte er sich die Wohnung in der 21. Etage angeschaut, bevor er hier einzog, aus Angst, sich im so kontrastreichen Haus nicht wohlzufühlen oder aber von Freunden und Bekannten abgestempelt zu werden. Heute kann er sich ein Leben woanders nicht mehr vorstellen und macht aktiv Lobbyarbeit für das Haus. „Es ist nicht schwer, die Leute hier kennenzulernen“, sagt er noch einmal nachdrücklich. „Und der Hausverwalter und der Vermieter kümmern sich. Sie schaffen Strukturen für die Menschen hier.“ Rund 250 Wohnungen gehören zum Hochhaus am Bleichpfad. Angelo und seine Nachbarn schätzen, so erzählt er, dass rund 800 bis 1.000 Menschen aus bis zu 25 unterschiedlichen Kulturen hier leben. Im Erdgeschoss gibt es einen städtischen Kindergarten, ein Supermarkt ist direkt angeschlossen an das Haus. Es sei ein kleines Dorf inmitten der Stadt Krefeld. Immer wieder investiert der Inhaber, die niederländische Westona Real Estate, Geld in das Gebäude. In den Maisonettewohnungen beispielsweise könnten sich Neumieter komplett eigenständig aussuchen, wie die Wohnung saniert werden soll. Aber auch die Fassade des gesamten Hauses hat vor wenigen Jahren einen neuen Anstrich bekommen.

Während die Sonne aus dem Schlafzimmerfenster schon fast nicht mehr zu sehen ist, springt Angelo plötzlich auf und eilt auf den Balkon. Ein warmes Licht berührt die Schornsteine der Seidenstadt, kitzelt die Baumkronen im Stadtwald und taucht Kempen und Tönisvorst in einen goldenen Schein. Angelo holt seine Kamera heraus: Auf Instagram hat er vor einigen Monaten einen eigenen Kanal mit dem Namen „Hochhaus am Bleichpfad Visions“ gegründet. Hier postet er regelmäßig Ausblicke von seinem Balkon und aus seinen Fenstern. Auch das solle helfen, Vorurteile zu bekämpfen, beschreibt er. „Am Ende zeigen wir hier auf 23 Etagen das echte Leben mit allen Facetten“, sagt er nachdrücklich. „Es gibt keinen Grund, sich davor zu fürchten oder es zu verurteilen.“

Als Angelo uns zum Aufzug begleitet und mit seinem Finger den Lift ruft, schaue ich ihn noch einmal kurz an. Die schwarze Strickjacke verdeckt hier auf der 21. Etage die tätowierten Arme, sein Blick wirkt unaufgeregt und dennoch wach. Höflich verabschiedet er sich, bedankt sich für den langen Besuch und schickt uns in den Aufzug. Jetzt sind es meine Finger, die über die vielen Knöpfe wandern. Ich brauche einen Moment, um die großen Lettern „EG“ zu finden. Nicht zögerlich, sondern wie von selbst, drücke ich den Knopf und hoffe, dass meine Abfahrt nur sieben Minuten dauert. Ich bin nicht so mutig wie Angelo, vielleicht besitze ich auch einfach nicht die richtigen Fähigkeiten. Das ist aber nicht schlimm, denn obwohl hier fast 1.000 Menschen leben, ist wohl niemand wie er. Einen Weltenwanderer gibt es in diesem Universum am Bleichpfad nur einmal.

*Name von der Redaktion geändert.

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