Josie und das Angelman-Syndrom

Das Kind, das niemals schläft

Der Bauch ist rund, die Vorfreude wächst und die Liebe für das neue Familienmitglied ist schon jetzt riesengroß. Wenn wir über die Zukunft als Ehepaar und Familie nachdenken, dann haben wir die schönsten Bilder im Kopf. Wir stellen uns vor, wie unsere Tochter oder unser Sohn zum ersten Mal „Mama“ oder „Papa“ sagt. Wir fragen uns, welche Talente und Eigenschaften der Nachwuchs haben wird und wünschen uns schon jetzt gute Freunde und tolle Klassenkameraden für ihn. Wir hegen geheime Wünsche, welche berufliche Karriere er oder sie irgendwann einschlagen wird. Und wir freuen uns schon heute auf die erste große Liebe und darauf, unser Kind mit Schmetterlingen im Bauch zum Altar zu führen.

All diese wunderschönen, rosigen Vorstellungen hatten auch Björn Zibner und seine Gattin Jennifer, als die heute 38-Jährige vor rund fünf Jahren mit dem zweiten Kind schwanger war. Das Ehepaar entschied sich, gleichzeitig mit dem Familienzuwachs ein sanierungsbedürftiges Haus im ländlichen Traar zu kaufen – genug Platz und einen großen Garten sollte es haben, damit Annabell hier mit ihrer zukünftigen Schwester ausgiebig spielen könnte. Die Vorfreude, die Familie wachsen zu lassen, war riesengroß. Dann aber kam alles anders. Wir wissen zwar, dass sich Pläne manchmal ändern können, das verringert aber nicht die Enttäuschung und den Schmerz, die wir spüren, wenn wir das neue, geänderte Drehbuch dann in den Händen halten.

„Als Josie auf die Welt kam, habe ich relativ schnell gemerkt, dass sie anders war als ihre Schwester Annabell“, erinnert sich Jennifer Zibner. „Sie schrie viel, schlief fast nicht und musste sich ständig übergeben. Mit den Monaten erschien mir ihr Verhalten immer auffälliger.“ Auch in der Entwicklung war die Kleine zurück: Sie schien nicht hören zu können, griff nicht, wie andere Kinder in ihrem Alter, nach Fingern oder Gegenständen und gab – außer beim Schreien – keinen einzigen Mucks von sich. „Josie war wie ein kleiner Geist“, sagt ihre Mutter liebevoll. „Und die Ärzte sagten mir, sie sei einfach etwas zurück. Aber ich merkte doch, dass da was nicht stimmt.“

Jennifer und Björn wanderten von einem Kinderarzt zum nächsten, nahmen enorme Wegstrecken zu Experten auf sich und landeten auf ihrer Suche nach Antworten irgendwann in einer Spezialklinik in Datteln. Hier schien endlich jemand die elterlichen Sorgen ernst zu nehmen. Erneut untersuchten die Ärzte die inzwischen Zweieinhalbjährige von oben bis unten. „Und dann, auf einmal, gab es ein Ergebnis“, sagt Björn Zibner mit tonloser Stimme und fährt sich mit der Hand durch das Haar. Josie ist einer von 600 Menschen in Deutschland, die am Angelman-Syndrom leiden – einer seltenen Veränderung auf Chromosom 15.

Angelman-Kinder sind in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung stark verzögert. Mit spätestens sechs Jahren stoppt die geistige Reifung. Der Körper wird erwachsen, der Geist aber bleibt stehen. Das betrifft nicht nur die motorischen Fähigkeiten, sondern auch die Sprache. Selbst wenn es Angelman-Betroffene irgendwann schaffen, mehr als nur Laute über die Lippen zu bringen, werden sie nicht mehr als zehn Worte sprechen können. Gleichzeitig ist der Hormonhaushalt gestört. Melatonin, der Botenstoff der den Schlaf steuert, ist im Körper zu wenig vorhanden. Dadurch werden die Betroffenen nicht müde. Sie brauchen in der Regel nur fünf Stunden Schlaf am Tag, schlafen nicht mehr als 30 Minuten am Stück. Dafür sind sie in Wachzeiten hyperaktiv, verlangen nach Beschäftigung und Input. Unbeaufsichtigt können sie dabei nicht bleiben, denn häufig gehen epileptische Anfälle mit der Behinderung einher. Harry Angelman, der britische Kinderarzt, der die Chromosomveränderung 1965 entdeckte, beschrieb sie auch als „Happy-Puppet-Syndrom“. Obwohl kein Forscher bisher herausgefunden hat, wieso, lachen die Angelman- Kinder ständig, kichern, glucksen und plappern dabei. Sie wirken wie wunderschöne, glückliche Puppen.

„Da hatten wir also die Erklärung, nach der wir fast 30 Monate gesucht hatten“, erinnert sich Jennifer Zibner und streicht Josie zärtlich über den Kopf. „Es tat so weh und war gleichzeitig irgendwie total erleichternd. Diese Gefühle kann wohl fast niemand verstehen.“ 80 Kilometer trennten die Spezialklinik in Datteln und das lauschige Familienheim. Rund 70 Minuten Fahrt, auf denen Jennifer und Björn ihren Gefühlen freien Lauf ließen. „Wir haben die ganze Zeit geweint und eigentlich fast nicht gesprochen“, erinnert sich der Arbeitsvermittler. „Auch wenn da ein Mensch ist, den du über alles liebst, hast du auf einmal die Gewissheit, dass dein Kind immer auf Hilfe angewiesen sein wird.“ Und Jennifer fügt an: „Ich hatte plötzlich vor Augen, dass sich mein Kind nie ein Brot schmieren können, ich es nie vor den Altar führen würde und gleichzeitig spürte ich so viel Liebe.“

Mit ihrer Energie hält die kleine Josie ihre Eltern Björn und Jennifer rund um die Uhr auf Trab.

Die Ärzte rieten dem Ehepaar, Kontakt mit Gleichgesinnten aufzunehmen. Der Angelman-Verein bringt deutschlandweit Angehörige von Betroffenen zusammen. Auch die Zibners suchten sofort die Nähe zum Verein und wurden nur vier Wochen später zum Jahrestreffen eingeladen. „Ich werde nie vergessen, wie ich erwachsene Männer hier im Bällebad spielen sah“, sagt die 38-Jährige. „Das war schon schwierig, aber auf der anderen Seite musst du dich damit auseinandersetzen, um zu begreifen, wie die Zukunft deiner Familie aussehen wird.“ Zum einen nutzte das Ehepaar das Treffen, um praktische Fragen zu klären. Dadurch, dass nur so wenig Fälle des Angelman-Syndroms in Deutschland bekannt sind, gibt es lokal keine spezifischen Hilfestellen. Die Erfahrungen anderer Betroffener sind deswegen besonders wertvoll. Das Ehepaar lernte, welche Kommunikationsmöglichkeiten es für Josie geben könnte, worauf bei der Antragsstellung mit den Krankenkassen geachtet werden musste oder auch, wo es Windeln für die oft kräftigen Kinder zu beantragen gibt. Auf der anderen Seite, und das war zu diesem Zeitpunkt noch fast wichtiger, bot das Treffen Raum, um sich über die so widersprüchlichen Gefühle austauschen zu können. „Da war jemand, der genau das gleiche erlebt hatte wie du“, sagt Björn Zibner und seine Augen glänzen leicht in der Sonne. „Und die dir auch dabei helfen konnten, das alles irgendwie zu verarbeiten. Es wird nicht schlechter, aber es wird anders – das ist das wichtigste, das ich hier gelernt habe.“

Wer die Zibners im Alltag besucht, erwartet vielleicht eine gestresste, erschöpfte Familie. Das aber, was der Beobachter vorfindet, ist etwas vollkommen anderes. Schon als die Klingel schellt, stürzt die Vierjährige zur Tür, dicht gefolgt vom Therapiehund Odin. Sie klopft auf das Treppengeländer, um in ihrer Sprache ein „Komm mit“ zu signalisieren und lädt den Besucher ein, mit ihr im Bällebad zu toben. Während die Kleine, die aufgrund ihrer Behinderung kein Sicherheits- und Gefahrempfinden hat, sich wild in die Bälle stürzt, versucht der Mitspielende vergeblich das Tempo zu halten. „Josie ist so ein glückliches Mädchen, das ganz besondere Fähigkeiten hat“, erklärt ihre Mutter. „Mit ihrer Fröhlichkeit steckt sie uns jeden Tag an. Natürlich fordert sie auch, aber es wäre doch viel schlimmer, ein depressives, antriebsloses Kind zu haben.“

Die Zibners haben ihren Rhythmus gefunden. Jennifer, ein zweifaches Studium in der Tasche, ist in ihren Job als Unternehmensberaterin nach der Elternzeit nicht zurückgekehrt, um voll für ihre Tochter da sein zu können. Schon lange schläft das Ehepaar nicht mehr gemeinsam in einem Bett: Am Wochenende und mittwochs abends macht es sich Björn auf einer Matratze in Josies Zimmer gemütlich, um immer mal wieder einzunicken, aber vor allem das Mädchen zu beruhigen, wenn es auch nachts hyperaktiv ist. In den anderen Nächten übernimmt seine Frau.

Während Björn in Vollzeit arbeiten geht, managt Jennifer die Familienbetreuung. Mittwochs kommt eine Ehrenamtlerin aus dem stups Kinderzentrum zu Besuch, die Josies Betreuung für ein paar Stunden übernimmt. Dann hat die zweifache Mutter Zeit, den Haushalt zu erledigen, in Ruhe eine Runde mit Odin spazieren zu gehen oder auch ganz einfach Schlaf nachzuholen. Die Großeltern sind wichtige Figuren im Leben der Familie: Kommt Annabell als Schwester von Josie oft zu kurz, wird sie bei den zwei Omas und beim Opa verwöhnt. Auch der Haushalt hat sich eingependelt: Es ist keine Seltenheit, dass Jennifer jeden Tag mehrmals die Waschmaschine anschmeißt. Dadurch, dass sich Josie weiterhin plötzlich und ohne Grund übergibt, haben die sauberen Klamotten nur eine geringe Halbwertszeit.

Auch wenn die Routinen der Familie mit hoher Anstrengung verbunden sind, geben sie doch Struktur. Einzig und allein die Absencen der Epilepsie, die rund zehn Mal am Tag vorkommen, bringen die gewohnten Abläufe immer wieder durcheinander und rufen Gefühle hervor, die für Eltern nur schwer zu ertragen sind. Grundsätzlich besteht durch das Angelman-Syndrom keine verkürzte Lebenserwartung, ein epileptischer Anfall aber kann jedes Mal tödlich sein. „Heute ist es für mich keine schlimme Vorstellung mehr, dass ich Josie nie vor einem Altar in die Hände der Liebe ihres Lebens geben werde“, beschreibt Jennifer Zibner. „Ich wünsche mir einfach, dass sie, genauso wie sie ist, eine lange und erfüllte Zukunft haben wird. Und wer weiß, vielleicht gibt es irgendwann in Deutschland Möglichkeiten, dass Menschen wie Josie selbstständig leben können.“

SPENDEN SIE FÜR JOSIE!
Die Familie Zibner würde nie aktiv um Spenden bitten, im Gespräch ist aber deutlich geworden, dass es dennoch viele Stellschrauben in ihrem Leben gibt, die ihren Alltag erleichtern könnten. Aufgrund der Seltenheit von Josies Behinderung sind Beantragungen bei der Krankenkasse mühsam und häufig erfolglos. Erst kürzlich hat die Familie es geschafft, durch jahrelanges Sparen einen Gebärdenkurs zu finanzieren, der es ihnen ermöglichen wird, besser mit Josie zu kommunizieren. Auch ein Lastenfahrrad oder sogar ein Tandem, auf dem ein Elternteil gemeinsam mit der Tochter fahren könnten, würden den Alltag erleichtern. Josie ist inzwischen zu schwer, um im Kindersitz mitzufahren. Bis die Zibners auf ein Rad gespart haben, sind keine gemeinsamen Familienausflüge möglich.
Wir finden: Josie sollte darauf in diesem Sommer nicht verzichten. Bitte helfen Sie mit und spenden Sie für die Mobilität der Vierjährigen. Die Zibners leisten Großartiges und haben unser Team tief beeindruckt. Wir würden uns freuen, wenn wir der Familie gemeinsam mit Ihnen helfen könnten.

DRK-Schwesternschaft Krefeld e.V.
Volksbank Krefeld
IBAN DE92 320 603 62 000 00 54 321

BIC GENODED1HTK
Kennwort: „Spendenaktion Familie Zibner“
Spendenquittung möglich

Artikel teilen: